Der Spuk ist vorbei

... aber mich lässt die Frage nicht los, wie so viele drauf reinfallen konnten.

Die Rede ist von der unsäglichen Ideologie der "vererbten Rudelstellungen", die vor einigen Jahren Wellen schlug. Inzwischen ist das Ganze eingeschlafen, weil sich viele von der völlig untragbar gewordenen Gründerin abwandten, weil das ZDF aufhörte, im großen Stil Werbung für den Schwachsinn zu machen, weil der Verein dahinter pleite ist, weil es Anzeigen wegen Tierschutzwidrigkeiten hagelte und vielleicht, hoffentlich, auch, weil sich die unermüdliche Aufklärungsarbeit einiger Engagierter gelohnt hat.

Die ganze Misere aufgearbeitet findet man hier: rudelstellungen-klargestellt.de

Ich habe mir einige alte "Aussteiger"-Berichte (es ist wirklich wie bei einer Sekte) durchgelesen und habe mich immer wieder gefragt, warum sind so viele anfangs darauf reingefallen? Sicher, das meiste ist in der menschlichen Psychologie begründet, dem Wunsch nach Anerkennung, danach, Verantwortung abzugeben, von Schuld freigesprochen zu werden usw. usf. - das Ganze war ein schauderhaftes Sozialexperiment, quasi "Die Welle" für Hundehalter. Mit schlimmen Folgen für die Hunde, bis zum Tod.

Aber immer wieder liesst man eben auch von, zumindest anfänglichen, Durchbrüchen, Erfolgen. Davon, dass alles plötzlich leichter, besser, harmonischer wurde. Diese ersten positiven Erfahrungen gab es ja tatsächlich, und sie hielten die Leute bei der Stange.

An dem idiotischen Konzept lag es sicher nicht, da ist nicht "irgendwo ein Körnchen Wahrheit" dran. Davon wird mich keiner überzeugen. Erschreckend, wieviele Absplitterungen immer noch ihr Unwesen treiben, und die gequirlte *** unter anderen Namen weiterverbreiten - als "Hundesozialstruktur" oder "Geburtsrecht der Hunde". Bitte, bitte: Finger weg.

Aber was war es dann?

Ich denke, es war ein zufälliges Nebenprodukt. Die ersten Schritte, die Neu-Mitglieder gehen mussten, waren zum Einen die sogenannte "Entschleunigung" und zum Anderen eine Isolation von "nicht passenden" Hunden - seien es Fremdhunde oder im selben Haushalt lebende Hunde.

Ich bin überzeugt, dass durch diese Maßnahmen tatsächlich eine plötzliche, deutliche Verbesserung eintreten konnte, bei sehr vielen Haltern.

Man schaue sich an, mit welchen Ausgangsbedingungen die allermeisten Leute zu dieser Frau und ihren schauderhaften Rudelstellungs-Workshops gingen:

- unsichere, relativ ahnungslose und/oder überforderte Hundehalter
- mit "Problemhunden", sehr häufig Hunde mit Vorgeschichte, Angsthunde, aggressive und unverträgliche Hunde, oder Hunde, mit deren rassetypischen Eigenschaften sie sich übernommen hatten
- Menschen mit einem starken Wunsch nach "Natürlichkeit" und Harmonie, und eher wenig Gestaltungswillen; die am liebsten den "Hund Hund sein lassen" wollen, die nicht "gängeln" oder "dressieren" wollen.

Das alles ist absolut nicht verwerflich!

Aber von welcher Ausgangssituation kann man bei diesen Voraussetzungen ausgehen? Ganz einfach, extrem gestresste Hunde. Und Menschen.

Hunde, die ohnehin schon in einem emotionalen Ausnahmezustand sind, wegen Angst, wegen Überreizung, weil sie sich in einem unpassenden Umfeld befinden - sprich, Hunde, die unter Dauerstress stehen.
Diesen Hunden wird, wegen Unkenntnis oder Unwillen, eine vernünftige Führung verweigert. Sie werden dauernd in der Überforderung alleine gelassen - Paradebeispiel natürlich Fremdhundekontakt, der unter schlechten Bedingungen ("Hallo sagen" an der Leine, Hundewiese) stattfindet und vom Menschen nicht angeleitet wird ("Die machen das unter sich aus"). Am schlimmsten: Eine Mehrhundehaltung, bei der Konflikte nicht vom Menschen verhindert oder gelöst werden, sondern oft noch unwissentlich gefördert werden - also wieder: Hunde, die unter Dauerstress stehen.

Dazu angespannte, unglückliche Besitzer - die auch unter Dauerstress stehen.

Meist dann auch noch die übliche Karriere: Ich habe alles ausprobiert/Ich war schon bei x Trainern usw. Im Klartext: es wurden ständig wechselnde Methoden angewandt, der Mensch wurde damit unberechenbar, handelte oft sogar empathielos ("Ich hab das so gemacht, weil der Trainer das gesagt hat"). Das Ergebnis: wieder Dauerstress für den Hund.

Jetzt noch ein bisschen gut gemeinte "Auslastung" obendrauf, die für Adrenalin sorgt, aber nicht für Entspannung - noch mehr Stress.

So, und dieser riesige Berg an Stress bei Mensch und Hund trifft jetzt auf "Entschleunigung" und Isolation. Sprich: Es fallen erst mal fast alle Stressfaktoren weg. Statt dessen wurden Neulinge aufgefordert, mit ihren Hunden zusammen ganz in Ruhe die Welt zu erfahren und sie dabei genau zu beobachten, aber nichts zu tun.

Ich kann mir schon vorstellen, dass das erst mal zu einem gewaltigem Aufatmen führte. Und zu einem ganz neuen Blick auf den Hund.

Leider gingen alle folgenden Schritte in die komplett falsche Richtung, das will ich hier gar nicht diskutieren. Aber dieser erste Schritt, der war für viele  offensichtlich der richtige. Und etwas völlig Neues.

Denn die meisten Hundeerziehungs-Methoden, die so herumgeistern, zielen auf immer noch mehr und noch mehr Input ab. Verhalten wird korrigiert, geformt, belohnt, bestraft. Das kann aber zu nichts Gutem führen, solange der Hund (und der Mensch!) unter Stress steht. Der ganze Input bedeutet nur noch mehr Reize, noch mehr Stress. Ein klassischer Teufelskreis.

Mir kommt das Thema Stress einfach überall zu kurz. Denn ich habe noch keinen einzigen "Problemhund" gesehen, dem nicht der Stress ins Gesicht geschrieben stand.
Es wird an Problemen herumgedoktert, ohne dafür zu sorgen, dass die Hunde das Training überhaupt verarbeiten können. Lösungen sind so allenfalls kurzfristig, und es sind Lösungen für den Menschen (der Hund wird "handelbar", wie man so schön sagt), aber für den Hund ist nichts gelöst. Der wird  im schlimmsten Fall auf Dauer nicht nur seelisch, sondern auch körperlich krank.

Der erste Schritt muss immer sein, dem Hund Entspannung zu ermöglichen,  und schlicht und einfach genug Schlaf. Er muss in der Lage sein, zu lernen, zu verarbeiten.  Sonst braucht man doch gar nicht anfangen.

Hunde, die massive Probleme mit fremden Hunden haben, gehören nicht in Gruppenstunden, solange ihre Menschen nicht gelernt haben, wie sie ihren Hunden Sicherheit vermitteln können.
Und Hunde, die massiv hochdrehen, die zwanghaftes Verhalten zeigen (Bällchen...), die angstaggressiv sind, die unter Reizüberflutung stehen, können (noch)  nicht erzogen werden, weder mit Belohnung, noch mit Strafe, die müssen erst mal runterkommen und aufnahmefähig werden.
Hunde, die von ihrer Umwelt permanent überfordert sind, können nicht "alltagstauglich" sein und es auch nicht werden.

Aber den Stress loswerden - das dauert, das ist erst mal relativ langweilig, man muss sich stark einschränken (den Hund nicht überall mit nehmen, nicht stundenlang auf der Hundewiese quatschen) und es geht absolut nicht auf "Knopfdruck". Es gibt keine Gebrauchsanweisung.

Aber es ist - und das habe ich bei den Hunden, denen ich in meinem eigenen Umfeld hier und da mal helfen durfte, immer wieder erlebt - der einzige Weg. Davon bin ich überzeugt. Und wenn die Hunde erst mal aufnahmefähig sind - dann lösen sich ganz viele Sorgen in Luft auf.

Das Thema Stress wird immer wichtiger für immer mehr Hundehalter. Meiner Meinung nach schlicht und einfach deshalb, weil
1. immer mehr stressanfällige Hunde angeschafft werden, insbesondere Hunde aus dem Auslandstierschutz, aber auch Hunde bestimmter, reizoffener Rassen (insbesondere die so beliebten Hütehunde) und
2. der Stress aus der Umwelt steigt, z.B. mehr Hunde in der Stadt leben, es immer mehr Hunde gibt und damit immer mehr Hundebegegnungen usw.

Natürlich verschwindet mit dem Stress nicht jedes Problem - aber was bleibt, sind Probleme, die der Mensch hat, weil der Hund nicht zu den eigenen Erwartungen passt, weil er sich halt wie ein Hund verhält, weil er bellt oder jagt oder territorial ist, und da kann man und muss man dann eben mit der guten alten Erziehung ansetzen. Aber erst dann.

Erst mal muss der krank- und irremachende Stress weg.

Und das ist etwas, was viele Hundetrainer und Hundeschulen nicht beachten. Der (zahlende) Kunde will Ergebnisse, will aktiv etwas tun, will Probleme lösen. Los los, zack zack. Also wird den Symptomen mit viel Aktionismus zu Leibe gerückt....

Gerade eben beim Spaziergang bin ich einem Nachbarn begegnet. Mit eineinhalbjährigem Border Collie. Der nur "funktioniert" (seine Worte), wenn man ihm sein Spielzeug vor die Nase hält. Sonst haut er ab. Der Hund unter Daueradrenalin, permanent hochgefahren und auf das Spielzeug fixiert. Und das alles auf Anraten und unter Anleitung einer Hundetrainerin.

Da wundert einen doch dann auch nichts mehr...



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